Belassen wir es beim Sie. Wir kennen uns nicht. Die wenigsten Menschen kennen mich. Sie haben viel über mich und meine Vergangenheit in der Zeitung oder in den Online-Medien gelesen. Über die Landammannfeier 2014. Sie wissen ganz genau, was sich damals abgespielt hat. Im Gegensatz zu Ihnen weiss ich es bis heute nicht.
Die gängige Form im Titel kann ich so nicht formulieren: “Sehr geehrter Hater” oder “Lieber Hater”? Nein. Wo die Würde des Menschen im Grundsatz unantastbar ist, haben gerade Sie sich dazu entschieden, meine nicht zu wahren. Ich möchte Ihnen dies nicht gleich tun, doch es widerstrebt meinem Naturell, Sie – wenn auch nur in der Form – zu ehren, oder Ihnen gar zuzuschreiben, Sie seien lieb.
Hater, ich möchte Sie einladen. Nein, nicht, um sich auszusprechen. Ich lade Sie ein, Ihre Sicht der Dinge mit meiner Perspektive zu ergänzen.
Wenn Sie Ihr geschriebenes Wort gegen mich richten, liest es sich so, als ob Sie mich kennen würden. Sie scheinen mir glaubhaft darstellen zu wollen, dass Sie mir irgendwo begegnet sind. Sie scheinen nicht zu wissen wo, aber sie meinen, es müsse “früher” gewesen sein. In diesem “früher” seien Sie mit mir intim geworden, was Sie gern im ganz grossen Stil Gleichgesinnten erzählen. Dennoch wissen Sie ganz präzise, dass ich unfickbar bin: Sie nennen mich hässlich. Sie kennen alle meine Präferenzen, restlos, und kommunizieren diese unverblümt.
Es sind so viele Facebooknachrichten und Tweets. Tausende. Sie verfassten und versenden ein paar hundert Briefe per Post an mich, wobei diese fast alle anonym unterzeichnet sind. So sind die letzten 120 ungeöffnet in einem öffentlichen Abfalleimer archiviert worden. Wenn ich allein an das Porto denke, schmerzt mein Sinn für Verhältnismässigkeit.
Nett sind sie nicht, die Botschaften. Sollte ich es neutral formulieren, würde ich schreiben, dass sie entlarvend sind. Dazu später mehr.
Ich schätze sachliche Diskussionen. Aufgrund meiner politischen Arbeit und meiner direkten Art stehe ich häufig Menschen gegenüber, die anderer Meinung sind als ich. Das fordert mich positiv heraus. Ich schätze dabei eine gepflegte Ausdrucksweise, eine differenzierte Wortwahl. Ausdrücke wie “Linke Fotze“ und ”Verfickte Hure“ erscheinen mir in erster Linie als unreif und lassen in mir die Vermutung aufkommen, dass Sie mich nicht konstruktiv kritisieren, sondern einfach nur verletzen wollen. Gepaart mit einer Schreibweise, welche aus jeglichem Rahmen der Rechtschreibung fällt, stellt sich mir die Frage, was Sie mit beispielsweise acht Fragezeichen, Grossbuchstaben und einer roten Schrift ausdrücken wollen. Ich kann mir lediglich vorstellen, es macht das Geschriebene auf eben diese Art wichtig für Sie. Für mich unterstreicht es die Respektlosigkeit, welche Sie mir entgegenzubringen bereit sind. Mir ist bewusst, ich werde nie erfahren, gegen was oder gegen wen sich Ihre Wut eigentlich richtet. Ich habe verinnerlicht, diese nicht persönlich zu nehmen.
Sie sehen, ich denke über ihr Verhalten nach. Und genau dieses Verhalten, nicht Ihre Wut und auch nicht Ihre Person, einzig Ihr Verhalten verurteile ich und verstehe mich dagegen zu wehren.
Ich weiss nicht gerade viel über Sie. Sie arbeiten im Strassenbau. Manchmal sind Sie Berufsschullehrer oder Dr. lic. phil. Sie sind auch schon mal im Ruhestand. Sie decken ein wirklich breites gesellschaftliches Spektrum ab. Was sie meistens alle gemeinsam haben, ist Ihr Geschlecht. Sie sind männlich. Selten machen Ihre weiblichen Parteimitglieder auch mit bei der Hetze, aber ich kann hier klar über eine Minderheit berichten. Bei den Frauen ist der Grund für die Nachricht nicht sexueller Natur, dies schafft eine ganz andere Basis. Frauen schreiben mir jeweils, ich solle still sein und mich um die Kinder kümmern und gefälligst meinem Mann was Schönes kochen zum Abendessen. Ich hätte nichts in der Politik und in der Öffentlichkeit verloren. Ich nehme es zur Kenntnis.
Sie schreiben mich mit Ihrem persönlichen Profil an. So kann ich sehen, wo Sie arbeiten. Konfrontiere ich ihren Arbeitgeber mit Ihren ausserberuflichen Tätigkeiten im virtuellen Leben, äussern Sie, ihr Profil sei gehackt worden, sie hätten einen solchen Text nicht verfasst. Das meinte ich ganz oben im Text mit „entlarvend“. Und dies kommt gehäuft vor.
Meistens überlegen Sie sich nicht besonders viel dabei, wenn Sie mich auf Social Media beschimpfen. Die Nachrichten, welche Sie absetzen, die Facebookeinträge und Tweets, die sind gespeichert, selbst wenn Sie sie löschen.
Als ich klein war, sassen die Proleten am Stammtisch und zogen über die Hexen, respektive die selbstbewussten Frauen, her. Die Frauen waren nicht dabei, weil sich ein solcher Mann nicht gewagt hätte, die Ehre einer Frau so direkt und unmittelbar zu verletzen. Der Rechtsweg war ausgeschlossen. Aber heute, heute ist die Frau vernetzt. Sie hat alle Ehrverletzungen schriftlich, unverblümt und unlöschbar.
Verbale Entgleisungen sind verhältnismässig teuer, wenn man bedenkt, wie schnell sie doch ins Internet getippt sind. Eine „Schlampe“ und ein „Luder“ kosteten einen jungen Mann kürzlich CHF 1’150.— (davon CHF 600.— bedingt). Ein anderer Mann nannte mich „verlogene linke Säuferin, schwer psychisch krank“. Das kostete dann CHF 3’900.— (davon CHF 2’600.— bedingt).
Das schmerzt doch.
Manchmal einige ich mich mit Ihnen in Anwesenheit des Staatsanwaltes auf einen Vergleich. Es wird dann nicht zwingend günstiger für Sie. Sie können sich einzig die Anzeige mit Strafregistereintrag sparen. Was Ihnen aber nicht erspart bleibt, ist der Moment, in welchem Sie am Tisch vis-à-vis sitzen, ganz kleinlaut werden und schwitzend nach Worten ringend eine Entschuldigung von sich geben.
Die Entschädigung, welche Sie in diesen Situationen schuldig werden, spende ich zum grossen Teil. Ein Mann, welcher mich in mehr als 40 Mails mit gefälschten Absendern beleidigt hat, musste eine Summe von CHF 10’000.— überweisen. Eine Frauenorganisation, eine Musikband, mein Anwalt und unsere Familienferien-Kasse konnten das Geld dankend entgegennehmen.
Im Rudel fühlen Sie sich pudelwohl. Einfach draufhauen ist einfacher als Selbsterkenntnis. Es trifft nicht nur mich. Der typische virtuelle Hau-den-Lukas ist jung und weiblich.
So, wie verbleiben wir? Wäre es möglich, dass Sie mich jetzt in Ruhe lassen und Sie mir den Titel aus dem Vorjahr als meistgegoogelte Frau des Landes in diesem Jahr ersparen könnten? Vielleicht stellen Sie zwischendurch das WLAN aus und verlassen Ihre Wohnung, echli an die frische Luft. Vielleicht gehen Sie zum Stammtisch im Dorf und trinken Bier mit Gleichgesinnten. Und vielleicht können Sie ganz anständig bleiben, sachlich argumentieren und keine Frau beleidigen (und bitte nicht die Serviceangestellte begrapschen). Ja, ich kann mir vorstellen, dass das jetzt nicht einfach von heute auf morgen so funktioniert. Aber danke, dass Sie es zumindest mal versuchen.
Und nun ein paar wenige Worte zu mir.
Wissen Sie, während Sie ihrer Wut freien Lauf lassen, plaudere ich im Laden an der Kasse, zeige meinem Kind, wie es die Schuhe binden kann, rede mit der Nachbarin, sehe in die Wolken, sitze im Rat, überlege mir Lösungen zu politischen Fragen, verfasse Texte. Denn ich bin: Mami, Kantonsrätin, Managerin, Autorin, gute Fee, Tochter, Schwiegertochter, Ehefrau, Nervensäge, hartnäckig, nachhaltig, ich stehe in der Öffentlichkeit und vieles mehr.
Und dann lese ich Ihre Zeilen. Bei all dem, was ich bin. Was sie über mich zu wissen glauben, trifft nicht zu. Erst steht die Zeit still. Dann machen mich die Zeilen in roter Schrift, die Fragezeichen in mehrfacher Ausführung und die penetrante Grossschreibung wütend.
Wir sprechen ja gerade über Wut. Als ich mich hingesetzt hatte, um diesen Text zu schreiben, entsprang meiner Feder für wahr ein wütender Text. Dann ging mir die Gleichung auf, dass wir Feuer mit Feuer nicht löschen werden können. Was zurückblieb war sogar ein Verständnis dafür, dass Sie so wütend sind, dass der Frust über die eigene Situation sich auf einen Menschen, auf mich, überträgt.
Und doch bringt mir diese Erfahrung die Erkenntnis, ein solches Verhalten nicht billigen zu können und zu wollen. Kein Geld der Welt kann mir die Zeit, die ich mit Ihnen in dieser Form gezwungen war aufzuwenden, zurückerstatten. Kein Geld der Welt macht den in Worte gepressten Hass ungeschehen.
Was zu guter Letzt zurückbleibt, Hater, ist die Frage, wie wäre Ihre Botschaft an mich, wäre ich ein Mann?
Leben Sie wohl.
Jolanda Spiess-Hegglin