Es ist wiedermal so weit. #NetzCourage befindet sich erneut im Kreuzfeuer der Radikalisierten. Diesmal einfach andersrum und niemand versteht, was da passiert.


Also, fast niemand. 
 
Spoiler: alles ist orchestriert und kampagnenmässig aufgezogen.

 

Seit Tagen – eigentlich seit 4 Wochen – spielt sich auf Twitter Merkwürdiges ab. Ich will nicht sagen, dass sich einfach zwei «Lager» gegenüberstehen und mit Dreck spielen. Es ist aggressiver und vor allem ist es koordinierter. Und ganz sicher: normal ist das nicht, ich selbst empfand Twitter bislang als wertvolle Diskussionsplattform, kurze Statements, präzise Zielgenauigkeit an die gewünschten Adressat:innen, grossartige Gemeinschaftsbildung. Durch die Geschwindigkeit haut man auch mal daneben, manchmal entwickelt sich ein Like zur Staatskrise, aber das ist selten und passiert auch nur dann, wenn man das grösste Medienhaus der Schweiz mit Gewinnherausgabe triggert. Item. 

Sticheleien gab es immer. Jedoch waren diese fast immer in ein simples Links-Rechts-Schema einteilbar, auch wenn ich Links-Rechts als etwas vom Rückständigsten überhaupt empfinde, wenigstens wars simpel und auch für oberflächliche Twitterdummies schnell durchschaubar.
In den letzten Wochen hat sich aber die – grob umzeichnet – linke Twitterbubble entzweit. Im Ring stehen sich gegenüber: «Linksliberale und Eingemittete» und auf der anderen Seite «Linksextreme und Radikalisierte». Gegenseitig haut man sich aufs Dach. Verstehe es, wer wolle, aber tatsächlich wurde Twitter so für viele – auch mich – deswegen zum toxischen Ort. 

Was ist da passiert?

Vor genau einem Monat, am 23. Mai 2022, äusserte ich mich zur Unschuldsvermutung. 
Nachzulesen ist dieses Statement hier:
https://twitter.com/JolandaSpiess/status/1528850185740230657?s=20&t=06HsRYO2H5uPVlzLxfwPuw

Es ging um die Forderung #KeineShowfürTäter, darum, dass #KonsequenzenfürLuke (Mockridge) gefordert wurden. Mit einer Unterschriftensammlung wollten Aktivist:innen und Feminist:innen aus dem Umfeld der JUSO Zürich den Auftritt von Luke Mockridge im Hallenstadion verhindern und das Thema in der Schweiz besetzen.

Ich wurde von der JUSO Zürich angefragt, die Petition zu unterschreiben und mit einem Tweet zu bewerben. Da wurde mir klar, dass ich mich dringend abgrenzen musste. Es war für mich ganz schwierig und nicht nachvollziehbar, weshalb man Luke Mockridge «Täter» nennt und ich verstand noch weniger, weshalb nach ergebnislos eingestellter Strafuntersuchung noch Konsequenzen gefordert wurden. 

Ich erinnerte in meinem Text daran, dass es in fortschrittlichen Ländern das Prinzip der Unschuldsvermutung gibt. Ich hätte noch präziser sein können, denn juristisch ist Luke Mockridge ja unschuldig. 

Dass an ihm dennoch ein Exempel statuiert werden sollte, liess mich konsterniert und desillusioniert zurück. 

Denn es ist noch nicht so lang her und die Geschichte ist bekannt: ich musste mich in den letzten Jahren intensiv mit Rechtsfragen, dem Rechtsstaat, der Mediengewalt und dem Machtmissbrauch derselben, Internethetze, Druckausübung bis zum Geht-nicht-mehr und dem Thema «wie produzieren wir uns den perfekten Sündenbock» befassen.

Ich weiss jetzt nicht, wieviele Menschen schon einmal wegen schweren Anschuldigungen in einem Strafverfahren steckten. Wahrscheinlich nicht so viele. Jemand von euch etwa? Nein? Dann kennt ihr vermutlich auch dieses Gefühl des Magentritts nicht, wenn einem klar wird, was einem gerade alles vorgeworfen wird. 
Diese Menschen um dem Hashtag #KeineShowfürTäter, Feminist:innen, Kämpfer:innen für Gerechtigkeit, haben vermutlich – ich kann es mir nur so erklären – auch keine Vorstellung davon, wie schwer dieser Rucksack, gefüllt mit Blei und Dreck ist (Dreck, welcher nichtmal einem selbst gehört, muss ich anmerken), welchen man über lange Zeit mit sich tragen muss und ihn nie ablegen kann. Keinen Moment. Und das alles dauert viel zu lange. Man versucht einfach, nicht daran zu denken, denn man hat ja nichts falsch gemacht. Doch es holt einen jeden Tag, jede Stunde, jeden Moment wieder ein. Gefühlt zeigen alle mit dem Finger auf einen. Undifferenziert und ohne mit allen Beteiligten gesprochen zu haben.

Und dann – unendlich lange Zeit später – wird das Verfahren eingestellt oder man wird freigesprochen. Man möchte 3 Tage lang am Stück feiern, ein Fass Champagner saufen, endlich all das tun, was im Kopf nie Platz hatte (den Europapark besuchen beispielsweise) aber eigentlich, wenn man ehrlich und vernünftig ist, möchte man nur noch schlafen. Endlich durchschlafen. 

Ich habe das erlebt. Mir hat jemand eine schwere Straftat vorgeworfen. Nach der ergebnislosen Einstellung des Strafverfahrens wegen eines Sexualdelikts hat mich der damalige Beschuldigte wegen Falschbeschuldigung angezeigt. Falschbeschuldigung ist eine schwere Straftat. 2 Jahre Gefängnis wurden gefordert, es gelang ihm mit Beschwerden, die Staatsanwaltschaft, welche das Verfahren gar nicht eröffnen wollte, zur Anklage zu zwingen. Ich wusste, dass ich nichts falsch gemacht habe.
Ich bekam in den Monaten vor der angesetzten Gerichtsverhandlung einen juckenden Hautausschlag, welchen ich blutig kratzte. Die Narben sieht man heute noch. Ich war monatelang verängstigt, matt, leer und wie gelähmt. Inexistent für meine Kinder und für meinen Mann lediglich eine bleiche Hülle.
 

Es kam dann alles gut, die Behörden attestierten mir, dass ich davon ausgehen durfte, Opfer eines Sexualdelikts geworden zu sein, auch wenn es juristisch keinen Täter gibt.
Aber es hat mich fertig gemacht. 

Aber ich musste auch lernen, zu akzeptieren, dass es keinen Täter gibt. Diese Erkenntnis war zentral. Sie erlaubte mir, vorwärts zu schauen und die freigesetzte Energie in meine Arbeit für Menschenrechte, für #NetzCourage, einzusetzen. 

Das war der Hintergrund für mein Statement für die Unschuldsvermutung. Ich bin da also recht empfindlich aufgrund eigener Erfahrung. Weil man mir diese Unschuldsvermutung damals nicht zugesprochen hatte. Es gibt Medienschaffende, welche es bis heute nicht tun. Sie alle wurden und werden auch künftig dafür von Gerichten verurteilt, weil es nicht nur moralisch nicht in Ordnung ist, Urteile zu ignorieren oder zu leugnen. Es ist strafbar.

Zurück zu Twitter. Mit diesem Statement habe ich mir einen Shitstorm eingefangen. Es war einer der Aggressivsten. Ich habe so viele anonyme Accounts blockiert, wie ich es zu den schlimmsten Wutbürgerzeiten nicht tun musste. Damals hatte ein falsches Wort oder eine Zweideutigkeit jeweils stets verlässlich die rechte Mobilmachung mit unüberschaubarem Gemetzel auf Twitter zur Folge. 
Diesmal war alles anders. Der Trollsturm hatte linksradikale und anarchistische Schlagseite. Alles sehr unübersichtlich. Aber die Anonymen waren sich einig: 
Ich bin eine Täterschützerin und #NetzCourage überflüssig.

So kam es, dass sich die Twittercommunity aufteilte. Jetzt gibts da das Team «Unschuldsvermutung» und das Team «Umkehr der Beweislast – aber nur in anonym». Und das ist etwas anstrengend. Denn das Team «Umkehr der Beweislast» demonstrierte allen Mitlesenden, was False Balance ist. Zwei Handvoll hässige, radikalisierte Accounts vermehrten sich plötzlich wie Kaninchen. Reihenweise schossen immer noch mehr anonyme Accounts aus dem Boden wie Pilze und haben die Behauptung aufgestellt, mit meinem Prinzip der Unschuldsvermutung würden Menschen aus dem Umfeld des Vereins und vor allem ich selber #NetzCourage massiv schaden. 

Wohlbemerkt: die Behauptungen stammen von Anonymen oder von Leuten, bei welchen #NetzCourage vorher entweder gar nie eine Rolle spielte oder dann waren auch solche dabei, welche mit ihren JUSO-Sektionen in der Vergangenheit von kostenlosen #NetzCourage-Workshops und Vorträgen zum Thema Digitale Gewalt und Awareness profitierten. Mit dabei waren auch JUSO- und SP-Funktionäre, welche seit vier Wochen fragwürdig und obsessiv auf mich und #NetzCourage verbal einprügelten, jedes Komma, jeder Like wurde gewertet und die haarsträubendsten Theorien zusammengezimmert. Auch sie musste ich alle blockieren.
Es waren auch solche drunter, welche wir mit aufwändigen Recherchen unterstützt haben, kostenlos. Aber ganz sicher war unter den Aggressoren kein:e einzige:r Unterstützer:in, welche:r ernsthaft mitgeholfen hätte, unsere Arbeit zu finanzieren und deshalb ein berechtigtes Mitspracherecht bezüglich Vereinsausrichtung hätte.

Die JUSOs machten einen Teil aus. Aber es war vor allem die anonyme extreme Linke mit ACAB («all cops are bastards») im Profil-Header oder #allmenaretrash im Feed, welche sich auf neue Feindbilder – nämlich den Verein #NetzCourage als Institution und mich als Person – eingeschossen hat. 

So weit, so schlimm. 
Was aber in diesem Kontext ein ganz wichtiger Punkt ist: 
#NetzCourage war während dieser Zeit auf Twitter kommunikativ gar nicht aktiv (ausser einmal, da haben wir anonyme Attacken im Generellen verurteilt und Partei für zwei Betroffene ergriffen und dazu aufgerufen, die Gewalt zu stoppen). Das Unschuldsvermutungs-Thema habe ich aufs Tapet gebracht, nie der Verein.

Da wird also eine gemeinnützige Institution permanent attackiert und steht unter Dauerbeschuss, obwohl nichts vorgefallen ist. 

Was aber noch interessanter ist:
Dieser linksextreme Mob, welcher mit ordentlich Beleidigungen und entmenschlichenden Kommentaren um sich schmeisst, greift also jeden und jede an, welche:r hinter, neben und vor mir steht. 
Aber keine:r von denen hat sich auf Twitter getraut, sich ihren politischen Gegenspielern, nämlich der «Jungen Tat» entgegenzustellen, welche am letzten Wochenende die friedliche Pride in Zürich störte. Nichteinmal online.
Stille vom schwarzen Twitterblock. Unerwartet.

Und das zeigt dann eben schon deutlich, dass diese ganzen Angriffe orchestriert wurden und noch immer sind. Von wem und mit welchem Interesse auch immer.

Es ist eine weitere Kampagne gegen mich, gegen uns, doch wir sehen zum Glück gestochen scharf durch den Pyronebel:

Ohne sich an rechtsstaatliche Regeln zu halten, könnte #NetzCourage keine Sekunde existieren. Beschuldigte vor Gericht bringen und auf Täter:innen zugehen funktioniert nicht, ohne die Unschuldsvermutung über persönliche Meinung zu stellen. Das wäre juristisch fatal und gesellschaftlich sowieso.
Wir würden uns sonst in die Reihen jener einordnen, welche uns jetzt – aus welchen Gründen auch immer – bekämpfen. Stellt euch das mal vor. Würden wir als einzige Beratungsstelle bei Digitaler Gewalt in der Schweiz ernstgenommen werden und einen Mehrwert darstellen, wenn wir unsere Meinungen und politischen Befindlichkeiten über das Recht stellen würden? Nein. 
#NetzCoruage ist zwar ein aktivistischer, jedoch kein anarchischer Verein. 
#NetzCourage muss die Balance in der Mitte halten. Für alle offen sein. Nur so füllen wir die Lücke im staatlich organisierten Opferhilfeangebot der Schweiz.

Und noch immer, nach all den Jahren, wird auf mich und den Verein sehr viel projiziert. Für die einen bin ich ein feministisches Badass, welches man nie ruhig kriegt. Und #NetzCourage eine lila pyrobewaffnete Kampftruppe, welche alten Wutbürgern im Internet Manieren beibringt und das Patriarchat sprengt.

Doch das ist – es tut mir leid – falsch. 

#NetzCourage ist eine noch junge NGO, für welche ein 3-köpfiges Team mit knappen Mitteln täglich und rund um die Uhr mit überirdischem Einsatz Betroffenen von Digitaler Gewalt Schutz bietet – weils sonst niemand macht.
Und ich bin in erster Linie Mensch mit Gewalterfahrung. Auch Taktikerin mit grossen Visionen, welche das System besser begriffen hat als alle anonymen Stänkerer zusammen. 

Deshalb: lasst uns weiterarbeiten. Und rudert bitte ab nun alle in dieselbe Richtung. Wer nicht mag, gehe wenigstens auf die Seite.  
​Denn hier kommen die Guten und die gewinnen immer.

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